Impulsive Kinder und wie wir ihnen helfen können

„Blöder Schuh!“ schrillt eine verärgerte Stimme durch das Stiegenhaus. Kurz darauf knallt und schallt es: „Tschagg“ und gleich darauf nochmal: „Tschagg“.

Der 9-jährige Felix sitzt auf dem beigefarbenen Fliesenboden der Umkleidekabine. Einer seiner beiden Turnschuhe liegt weit rechts neben ihm und einer weit links. Sobald er den herbeieilenden Trainer sieht, fängt er auch schon an, sich in leicht aufbrausendem Ton zu verteidigen und dem Schuh genervt die Schuld an allem zu geben: „Ja! Wenn der blöde Schuh nicht aufgeht!“
Ohne den Lehrer zu Wort kommen zu lassen, schießt er vom Boden auf und stürmt durch die offene Türe in den Turnsaal hinein. Auf dem Weg dorthin jagt er mit einem treffsicheren Tritt den vor ihm auf dem Boden liegenden Ball in die Luft.

Impulsive Kinder

Impulsive Kinder haben oft wenig Geduld und können nicht gut warten. Sie platzen mit dem was sie sagen wollen heraus und oft auch mitten in ein bestehendes Gespräch hinein. Sie drängen sich in einer Warteschlange nach vorne, ohne auf die anderen Wartenden zu achten. Sie reden bei Aufregung häufig schnell und viel, wechseln unerwartet das Thema und beziehen ihr zuhörendes Gegenüber scheinbar gar nicht mit ein. Sind sie aufgebracht, dann kommt es mitunter auch vor, dass sie andere treten, stoßen und schlagen.

Mit den aufgezählten Verhaltensweisen verstoßen sie gegen die sozialen Regeln in unserer Gesellschaft. Sie werden dafür oft schief angeschaut und müssen unzählige negative Kommentare einstecken.

Felix ist so ein Kind. Wenn etwas schiefgeht oder ihm nicht gelingt, macht er Radau.

Was hilft diesen Kindern, die oft eine blitzschnelle Auffassungsgabe und eine ansteckende Begeisterungsfähigkeit haben, um eine angemessene Verhaltenssteuerung zu entwickeln? Was braucht es dafür, damit sich diese Kinder immer besser auf sie verlassen können?

Das ist eine gute und wichtige Frage. Doch bevor ich näher darauf eingehe, erinnern Sie sich doch bitte einmal an eine Situation, in der Sie hungrig einkaufen gegangen sind.

Wenn die Impulskontrolle versagt

Was bzw. wieviel haben Sie in Begleitung Ihres knurrenden Magens gekauft? Waren es die Lebensmittel, welche auf ihrer Liste standen? Waren es mehr? War der Einkaufswagen bei der Kassa vielleicht sogar mit einem Berg an Lebensmittel gefüllt? Oder konnten Sie sich und ihren Heißhunger im Zaum halten, während Ihnen beim Anblick der Köstlichkeiten in den Warenregalen das Wasser im Mund zusammenlief? Und sind dann doch an der Kassa schwach geworden, haben sich den Schokoriegel der Ihnen dort ins Auge gesprungen ist geschnappt und hatten den ersten Bissen schon auf dem Weg aus dem Geschäft hinaus in Ihrem Mund?

Wenn ja, dann waren in dieser Situation die Kontrollmechanismen in Ihrem Gehirn schwächer als der durch Ihren Heißhunger ausgelöste Impuls.

Und genau so oder so ähnlich geht es impulsiven Kindern: Sie fühlen sich einem starken inneren Druck ausgesetzt, dem sie sich nur mit äußerster Kraftanstrengung widersetzen können. Nur haben sie es schwerer, weil sie das öfter erleben und von der Intensität her hoch zehn spüren.

Sehr junge Kinder können ihre Impulse noch gar nicht beherrschen und ihr Verhalten nicht hinreichend steuern. Sie haben Schwierigkeiten ihre Begeisterung zu dosieren, ihre Bedürfnisse aufzuschieben, sich bei Ärger, Zorn und Aufregung zu beruhigen und ihr Benehmen unter Einfluss starker Gefühle zu lenken. Hirnphysiologisch betrachtet und gesprochen: Die Kontrollnetzwerke in ihrem Gehirn sind noch nicht entsprechend ausgereift. Es hängt von verschiedenen Umständen ab, wie rasch und gut das gelernt wird. Es gibt auch Erwachsene, die das leider noch nicht können.

Einem solchen Kind jedenfalls geht es wie einem Autorennfahrer, der zwar das Gaspedal treten kann, aber nicht weiß wie er das Bremspedal bedienen soll. Er verliert das Rennen trotz herausragender Fahrkünste, weil sein Rennwagen ins Schleudern gerät und schon aus der ersten Kurve getragen wird.

Kinder können lernen, ihre Impulse zu stoppen

Die Ursachen für eine mangelnde Impulskontrolle, auch „Selbstregulation“ und „Selbststeuerung“ genannt, können wie gesagt ganz unterschiedlich sein. Unabhängig von den Auslösern muss und soll das jedoch nicht so bleiben. Betroffene Kinder können lernen, ihre Impulse angemessen zu kontrollieren und ihr Verhalten vernünftig und sozial akzeptabel zu steuern. So kommen sie selbstbestimmt durchs Leben. Ansonsten erschwert ihnen das unangepasste Verhalten sozial und schulisch erfolgreich zu sein.

Was ist Impulskontrolle?

Was können wir, wenn wir über eine ausreichend ausgereifte Impulskontrolle verfügen?

Wenn es Ihnen gelingt, Ihre Kinder nicht anzuschreien, obwohl Sie vor Ärger fast platzen, dann ist Ihr Kontrollzentrum am Werk. Wenn Sie dem Impuls widerstehen, das Auto vor Ihnen zu beschädigen, weil Sie sich darüber ärgern, dass es Ihnen die Vorfahrt genommen hat, dann ist Ihr Kontrollzentrum am Werk. Wenn Sie dem Drang widerstehen, Ihrem Chef in der Sitzung ins Gesicht zu springen, weil er den eingebildeten Kollegen schon wieder bevorzugt und Sie sich ungerecht behandelt fühlen, dann ist Ihr Kontrollzentrum am Werk. Wenn Sie darauf verzichten, die köstliche Schoko-Torte auf einen Satz aufzuessen, weil sie Ihnen so gut schmeckt, dann ist Ihr Kontrollzentrum am Werk. 

Gedankliche Selbstgespräche

Beobachten Sie sich in solchen Situationen ganz genau: Vermutlich werden Sie feststellen, dass Sie jedesmal innerlich mit sich selber sprechen, wenn Sie mit einer herausfordernden Situation und mit starken Gefühlen umzugehen haben. Wenn Sie beispielsweise sehr wütend sind, regulieren Sie Ihre Wut durch innere Dialoge/Diskussionen. Sie sagen also etwas zu sich selbst, wie zum Beispiel: „So ein Mist! Am liebsten würde ich … Aber was passiert nachher? Das schadet mir. Also werde ich jetzt einfach einmal tief durchatmen.“

Kinder mit sogenannten Impulskontrollstörungen — so hat die Forschung herausgefunden — tun genau das zu wenig. Sie reden kaum mit sich selber und haben keinen Plan, um sich selber besser zu steuern und sich bei starken Gefühlen zu regulieren. Sie überspringen also diesen Schritt, der für uns meist ganz automatisch im Inneren abläuft. Konkrete Strategien können helfen, die so notwendige Selbststeuerung zu trainieren. Dazu später mehr bei den 4 Tipps.

Impulskontrolle ist auch bei Erwachsenen unterschiedlich ausgeprägt

Idealerweise sind wir Erwachsene mit ausreichend ausgereifter Impulskontrolle sogar in der Lage, unsere Handlungen vorausschauend zu planen. Wir essen zum Beispiel über den Tag verteilt kleine Portionen, damit es erst gar nicht soweit kommt, dass uns eine Heißhungerattacke überfällt.

Weil wir mögliche Folgen und Auswirkungen abwägen und naheliegende Konsequenzen vorwegnehmen, wird es uns möglich, uns zu beruhigen, Kompromisse zu finden sowie vernünftig und wahrhaft selbstbestimmt zu handeln.

Die Fähigkeit der Impulskontrolle ermöglicht es also, uns in Anbetracht vernünftiger Gesichtspunkte für oder gegen eine Handlung zu entscheiden, indem wir zwischen Impuls und Handlung einen Zwischenschritt einbauen. Dabei prüfen wir in einem Zeitfenster, das Sekunden oder Tage dauern kann, ob der aufsteigende Impuls, der uns manchmal ganz unerwartet überfällt, informativ und sinnvoll ist. Manchmal entscheiden wir uns, diesem Impuls nicht zu folgen und uns zu überlegen, was wir stattdessen tun können. Genau das kann ein impulsives Kind noch nicht genügend.

Übrigens: Zuviel des Guten ist natürlich auch schlecht. Immer alles stundenlang zu durchdenken macht entscheidungsunfähig und zwänglich.

Was hilft betroffenen Kindern weiter?

Was nun also tun, um Felix zu helfen? Was braucht er, damit sich die Kontrollnetzwerke in seinem Gehirn hinreichend aufbauen und er lernen kann, sein Verhalten vernünftig zu lenken?

Ständig genervt ermahnt und kritisiert zu werden – „Wie oft haben wir dir das jetzt schon gesagt!? Du weißt doch ganz genau, dass du das nicht tun sollst!“ – hilft betroffenen Kindern jedenfalls nicht weiter. Denn damit wird dem Kind die Botschaft vermittelt, dass es ja können würde, wenn es nur wollen würde. Das stimmt aber nicht. Dem Kind wird damit unrecht getan. Außerdem wird es mit solchen Sätzen auf Dauer in seinem Selbstwertgefühl gekränkt. Das Kind muss dann schlimmstenfalls enttäuscht über sich denken: „Wieder nicht geschafft. Ich bin ein Versager.“

Ein anderes Kind wiederum kann das irgendwann gar nicht mehr hören. Es fühlt sich unverstanden, hat die ständigen Ermahnungen satt, schaltet auf Durchzug und gibt innerlich immer mehr auf: „Ich bin eben so“, denkt es sich. Der Glaube und das Vertrauen in sich selbst wird zerstört.

Die Entwicklung entsprechender Fähigkeiten braucht sehr viel Anstrengung und Übung und damit auch Zeit und Ausdauer. Deshalb brauchen betroffene Kinder zuerst einmal Verständnis, Geduld und Zuversicht. Das ist das Fundament, auf dem die konkrete Hilfe aufbaut.

4 wirksame Tipps, wie Sie impulsiven Kindern helfen können

1. Erklären, wozu das „Bremsen“ gut ist
Suchen Sie mit dem Kind die Vorteile von einer besseren Impuls- und Selbststeuerung: Was alles kann dadurch besser werden? Den Fußballer Felix motiviert es vielleicht zu hören, dass die anderen Kinder sich dann weniger ärgern und lieber mit ihm spielen wollen, auch weil sie dann weniger Angst vor seinen Wutausbrüchen haben müssen.

2. Gemeinsam planen
Schmieden Sie mit dem Kind in einer ruhigen Minute gemeinsam Pläne für die Zukunft. „Wenn …, dann …-Sätze“ helfen dabei, dass sich die entsprechenden Verknüpfungen im Gehirn und die neuen, gewünschten Verhaltensgewohnheiten im Alltag aufbauen können.

Hier einige Beispiele dazu:

  • „Wenn ich mich ärgere, atme ich ruhig und zähle bis zehn.“
  • „Ich überlege zuerst, was danach passieren wird.“
  • „Wenn ich etwas sagen will, lasse ich den anderen zuerst ausreden.“
  • „Wenn mir eine Antwort einfällt, dann zeige ich auf und warte, bis der Lehrer mich drannimmt.“
  • „Wenn ich befürchte, dass ich inzwischen vergesse was ich sagen will, überkreuze ich die Finger, um es mir zu merken.“
  • „Wenn mich jemand komisch anschaut, frage ich zuerst nach, was los ist.“
  • „Wenn mich jemand ärgert, sage ich laut „Stopp!“

Üben Sie den letzten Punkt in einer spielerischen Atmosphäre, indem Sie es beispielsweise vorzeigen: Sie als Jakob, der sich über einen Schuh ärgert. Sprechen Sie dabei über ihre eigenen Strategien, oder denken Sie einfach mal laut: „Wie sehr ich mich über diesen Autofahrer ärgere. Am liebsten würde ich… Aber was passiert nachher?!!?“

3. Erinnern
Statt das Kind NACH einem Misserfolg zu tadeln, zu kritisieren und zu ermahnen, lieber VOR einer schwierigen Situation und immer wieder und früh genug an die Fähigkeit erinnern, die es lernen will. Ein Armband oder ein Kraftstein in der Hosentasche kann beispielsweise dabei helfen. Oder Sie vereinbaren mit dem Kind ein unauffälliges Geheimzeichen, das Sie ihm vor einer herausfordernden Situation zur Erinnerung zeigen.

4. Anerkennen
Halten Sie im Alltag stets Ausschau nach Situationen, wo dem Kind gelingt, was es sich vorgenommen hat und geben Sie ihm unmittelbar ein Signal. Blinzeln Sie ihm beispielsweise freudig zu, wenn es das Kind geschafft hat, nicht gleich loszustürmen sondern zu warten oder wenn es eine Weile zusehen konnte, ohne die anderen Kinder beim Spielen zu stören.

Geben Sie ihm regelmäßig kleine Feedbacks über seine Fortschritte: „Ich habe mich gefreut, dass du heute laut Stopp gesagt hast, als der Schuh dich geärgert hat.“ Damit würdigen Sie seine Bemühungen und Anstrengungen. Ihr Kind soll dabei die Freude in Ihrem Gesicht lesen können. Denn Freude und Begeisterung sind ansteckend und wirken laut Hirnforscher Prof. Dr. Gerald Hüther wie Dünger für unser Gehirn, wenn wir dabei sind, etwas zu lernen. So kann sich die Fähigkeit der Selbststeuerung und Selbstregulation mehr und mehr entwickeln.

Ermutigen sie das Kind, dran zu bleiben, auch wenn es doch wieder einmal gescheitert ist.

4 konkrete Schritte, wie Sie Ihr Kind dabei unterstützen können, eine angemessene emotionale und kognitive Selbstkontrolle aufzubauen

1. Sehen
„Ich sehe, dass du die Schuhe durch die Luft geworfen hast. Ah, du hast dich geärgert, weil sich die Schuhbänder verknotet haben und du sie nicht gleich aufgekriegt hast. Der Lehrer ist daraufhin erschrocken herbei gesaust.“

2. Verstehen
„Du hattest Sorge, dass er dich ausschimpfen könnte und bist gleich auf und davon und ohne Schuhe in den Turnsaal gestürmt. Die anderen Kinder sind dir aus dem Weg gegangen und wollten nicht mehr mit dir spielen. Dein Tempo hat sie wohl gestresst.“

3. Annehmen
„Ich kann das verstehen: Es fällt dir schwer, cool zu bleiben, wenn du dich ärgerst. Es geht dann alles so schnell und du machst Dinge, die du eigentlich nicht tun willst und später bereust. Doch dann ist es schon zu spät und jemand hat bereits mit dir geschimpft. Die Kinder ärgern sich oder haben Angst und gehen weg, weil sie die Schuhe nicht auf den Kopf kriegen wollen. Und du denkst dann, dass sie dich nicht mögen. Echt schwer. Dabei bist du so ein toller Junge.“

4. Verändern
„Hmmm. Was kann dir das nächste Mal helfen, damit das auch die anderen Kinder sehen können? Dieses Armband, in den Farben der Trikots deiner Lieblingsmannschaft kann dich an den Plan erinnern: „Wenn ich mich ärgere, bleibe ich ruhig, atme tief aus und zähle bis zehn.“

Und hier nun also die Idealvariante der Geschichte, die vielleicht schon in zwei Monaten möglich ist

Die Mutter bringt Felix zum Fußballtraining. Bevor er aus dem Auto aussteigt, erinnert sie ihn an das Armband, das um sein Handgelenk gebunden ist und an den eingeübten Plan.

Felix sitzt in der Umkleidekabine und will die Turnschuhe anziehen. Da merkt er, dass die Schuhbänder verknotet sind. Er versucht den Knoten zu lösen, zieht ihn dabei aber noch fester an. Felix ärgert sich, weil er ja schnellstmöglich zu den anderen Kindern in den Turnsaal hineinlaufen will. Während sich seine Muskeln anspannen und ihm im Kopf schon ganz warm wird, sieht er das Armband. Er hält inne und erinnert sich an den Plan: „Wenn ich mich ärgere, atme ich tief aus und zähle bis zehn.“ Daraufhin atmet Felix ein paar mal hintereinander tief aus. Dann denkt er nach und fragt seine Mutter, ob sie ihm helfen kann, den Knoten zu lösen.

Als er der Mutter ins Gesicht blickt, blinzelt ihn diese fröhlich lächelnd an, während sie ihm hilft. Da weiß Felix, dass er es wieder einmal geschafft hat, bei Ärger ruhig zu bleiben. Er umfasst das Armband an seinem Handgelenk wie die Hand eines guten Freundes und muss dabei lächeln. Dann saust er fröhlich zu den anderen Kindern, auf die er sich schon den ganzen Nachmittag gefreut hat, in den Turnsaal hinein.

Unser Gehirn bleibt ein Leben lang lernfähig

Natürlich läuft es beim Erlernen einer Fähigkeit im echten Leben nicht immer glatt und einfach wie in dieser Idealvariante der Geschichte. Und es geht schon gar nicht von heute auf morgen. Doch dran bleiben und sich am Idealbeispiel orientieren, das lohnt sich.

Unser Gehirn ist ein Leben lang lern- und entwicklungsfähig, sagt die neurowissenschaftliche Forschung. Für eine optimale Entwicklung braucht es einfach „nur“ entsprechende Erfahrungen, Verständnis und hilfreiche, wohlwollende Unterstützung. Das können wir „impulsiven Kindern“ anbieten.

Selbststeuerung ist wichtig. Wenn Sie sich in einem Teufelskreis befinden, aus dem Sie alleine nicht herausfinden und sich Unterstützung holen wollen, dann kontaktieren Sie mich. Ich freue mich auf Ihren Anruf.

Herzlich
Ihre
Simone Fröch


Bild © Westend61 / photocase.de

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